Sonntag, 9. März 2008

Der dunkle Wanderer, Vitagen 1

Es war an einem Donnerstag im September des Jahres 2007, als er den dunklen Wanderer zum ersten Male traf. Es war kein Zufall, zumindest versuchte er sich das einzureden, während er über die Brücke ging, unter der sich die Fre hindurchschlängelte. Dieser Überquerung folgte ein Pfad, zur linken und rechten von Birnbäumen umsäumt. Er folgte ihm, in tiefen Gedanken gefangen. Wer war dieser Wanderer? Vitagen durchforschte sein Inneres, oder wollte ihm seine unmittelbare Umgebung einen Rat erteilen?

Flugs hielt er inne und im theatralischen Sturze warf das Grauen seine Klauen in ihn. Wie lange war er dem Pfad gefolgt? Es konnte sich nur um Minuten handeln, doch als er seinen Blick um sich warf, so reflektierte das Licht nichts als eine karge, öde Felsenlandschaft. Hier und dort lagen trostlos Trümmerberge und nur in der Ferne konnte er auf einem der zahlreichen Schutthügel ein paar Bitterblumen erspähen. Auch die Sonne schien verschwunden, das Licht war widernatürlich kalt. Vitagen kehrte um, lief und entkam doch nicht. Verzweifelt warf er sich zu Boden und bemühte seinen Verstand.

Dass er wahnsinnig war, war im hinlänglich bekannt, er kam ja gerade erst von einer Sitzung. Doch dergleichen wie eben war ihm noch nie geschehen. Konnte es mit seiner Begegnung zu tun haben? Er versuchte sich diese wieder in Erinnerung zu rufen und wirklich – seine Vision nahm Gestalt an. Er sah sich aus der Stube kommen, er bog ab, innerlich durch das eben Gehörte wieder aufs Neue zerwühlt, und da sah er diese Gestalt auf dem Marktplatz. Um diese Zeit war dort vieles zu Gange, es war die beste Mittagszeit, doch umso deutlicher schnitt sich der Wanderer von der Menge ab. Er stand an einen Stand gelehnt, eine Birne in der Faust und biss herzhaft hinein, dass ihm der Saft nur so übers Gesicht ran. „Du bist es!“, entfuhr es Vitagen und sein Herz schien sich überschlagen zu wollen. „Du, du Alptraum meiner einsamer Nächte, jetzt wagst du dich auch noch ans Tageslicht!“ Und bei diesen Worten taumelte er, stolperte störend durch eine Gruppe Bürger, die gerade an einem Stand über Haushaltswaren verhandelte und fiel dem Wanderer direkt vor die Füße. Dieser lachte keck, bewarf Vitagen mit seiner Birne und drehte ihm eine lange Nase. Dann griff er in seine Hosentasche, brachte einen Zettel hervor und sprach dazu: „Mein lieber Kerl Vitagen, ich erscheine Dir heute um Dir diese Botschaft zu überbringen. Ich zitiere: Mein über alles geschätzter dunkler Wanderer, bitte überbringen Sie diese Botschaft flugs Ihrem lieben Kerl mit dem idiotischen Namen Vitagen, Sie treffen ihn auf dem Marktplatze um die beste Mittagszeit, bla bla bla. Herr Vitagen, nehmen Sie es nicht persönlich, wenn Sie dies jetzt hören, doch richtet sich diese Mitteilung nur persönlich an Sie und auch an niemanden sonst. Es wird Ihnen empfohlen, eine Birne zu verspeisen und an ihren Kernen jämmerlich zu ersticken. Gezeichnet, die destruktive Kraft der Königin der absurden Geburt, und so weiter.“

Der dunkle Wanderer lachte, senkte dabei den Zettel zu Boden und warf dann sein Hemd vom Körper, zog eine Rasierklinge aus seiner Hose und begann sich den Oberkörper garstig aufzuschneiden, dass das Blut nur so hervorsprang. Schließlich schnitt er sich noch den kleinen Finger der linken Hand ab und warf ihn gegen Vitagen, der jedoch in Deckung ging. Darüber wütend packte der dunkle Wanderer nun Birne um Birne vom Ladentisch des hinter ihm gelegenen Standes und bewarf den armen Vitagen damit. Dieser griff sich getroffen an die Kehle, richtete sich würgend auf und taumelte im Todeskampf von dem Platze. Nach einiger Zeit erholte er sich und ging in Ruhe über die zu Beginn genannte Brücke.

- Und jetzt saß er in dieser felsigen Einöde fest. Es war doch wahrlich ein Tag um sich hässliche Dinge anzutun! Er griff sich in seine Manteltasche und erfühlte eine Birne. „Natürlich“, dachte er sich und biss hinein, wenigstens ebenso herzhaft wie der Wanderer auf dem Marktplatz. Er versuchte sich an jedem Kern zu verschlucken, doch wollte es ihm nicht glücken. In wilder Tollheit rief er aus: „Zum Teufel mit mir, nicht einmal an meinem Tode kann ich schuldig sein, und bin ich doch sonst für alles der Verantwortliche“ und rannte blindlings in den nächsten Schutthaufen, in der Hoffnung, es wolle sich ein Trümmer in ihn stoßen. Doch blieb ihm auch dieser Erfolg versagt. Erschöpft sank er ein weiteres Mal nieder, fiel auf die Knie und gedachte seines Wahnes. „Es mag jeder Weg der falsche sein, einen müssen wir doch wählen! Ich war mein ganzes Leben nur der Empfänger des Befehls, warum kann ich nun nicht diesem letzten Kommando meine Ehre erweisen? Ich erledigte es mit Stolz, und doch wird mir wohl eher wieder der Wanderer erscheinen und mich spotten, als dass es mir gelänge.“ Auf diese Worte hin fing er an bitterlich zu weinen und krümmte sich gar mitleiderregend. Doch nicht einmal der dunkle Wanderer wollte ihm wieder erscheinen, die Umgebung blieb öd und leer und somit leerte sich auch das Innere des Vitagen. Er gab die noch nicht einmal halb verdaute Birn’ wieder von sich und noch so vieles mehr. Doch beim Ausspeien der Kerne gelang es einem durch eine unbedachte Atembewegung in die Luftröhre zu schweben und Vitagen fiel zu Boden, die Hände an der Kehle, der Körper sich nach Luft sehnend. Doch das Schicksal kannte kein Erbarmen, und so starb Vitagen noch an Ort und Stelle in dieser Hölle und erwachte erst am Morgen des nächsten Tages wieder niedergeschlagen in seinem Bette, fernab der tristen Felsenlandschaft, die ihm jetzt wie eine gottgesandte Rettung erschien. „Ach“, so sprach er, „ach, was soll’s! Das Ableben ist nicht zu unterschätzen, so will ich morgen meine Frau Mama besuchen um die Technik exakt und fein an ihr zu üben.“

Und mit dieser guten Absicht verkroch er sich in einen tiefen Traum.

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