Sonntag, 17. August 2008

Mors Voluntaria

Ich beiße doch nicht! Alle Menschen beißen. Nicht mit ihren Zähnen. Nein. Menschen beißen anders. Anders und immerzu. Immerzu.

Ich bin in der Kiste. Gefangen? Nein, gefangen -- gefangen möcht' ich nicht sagen. Gefangen ist nicht richtig. Gefangene, die werden von einem hohen Gitterfenster überwacht. Von einem hohen Gitterfenster. So hoch, dass ein Luftstrom durchwehen kann! Ein Luftstrom des Ausbruchs. Nein. Ich bin in der Kiste. Und die Kiste hat kein Gitterfenster.

Leere. Leer. Die Kiste ist nicht leer. Der massive Behälter ist nicht leer. Ich weiß nicht. Ich weiß nicht aus welchem Stoff die Kiste ist. Welches Material. Lang und dünn. Da! Etwas langes -- und zugleich dünn. Etwas dünnes -- und zugleich lang. Dank der Dunkelheit kann ich das Ding nicht sehen. Dank der Dunkelheit tun die Augen nicht. Dank der Dunkelheit kann ich nur herumtasten. Weh. Etwas hat mich gebissen. In den Finger gebissen. Etwas hat mich – das Ding hat mich in den Finger gebissen! Es ist doch ganz klein. Ganz behutsam kann ich's packen. Ich reibe es zwischen den Fingern. Zärtlich. Es ist doch so zart. Ob das Ding das mag? Ob das Ding mich mag? Ich möchte ihm einen Namen geben. Ich möchte ihm einen Namen geben und nenne es -- die Kiste wird umgeworfen.

Laut, es ist so laut, plötzlich laut, plötzlich so laut! Hab's verloren. Lieg' auf der Seite. Das Ding -- wie will ich's nennen -- weh! Oh nein, es ist weg, wo ist's? Laut! Etwas schreit. Etwas brüllt. Etwas kreischt. Laut! Halte mir die Ohren zu, halte mir beide Ohren zu, ganz fest zu -- aber es mag nicht weg. Herz hüpft böse, schlimm. Ich taste um mich, es ist nicht hier. Das Ding ist nicht hier! Der Lärm ist nicht hier!! Beides ist nicht hier!!! Nicht in der Kiste. Aber wo dann? Ich drücke meine Augen fest, ganz fest gegen die Wand der Kiste. Es tut weh. Es tut nur weh, aber ich seh' nichts. Es wird unangenehm. Unangenehm grell. Salz tropft. Verlässt mich. Alles verlässt mich. Nicht alles. Überall ist jetzt Licht. Überall, nicht in der Kiste. Aber durch ganz kleine, klitzikleine, klitziklitzikleine, so kleine, so klitziklitziklitzikleine Risse - so klein dass man sie gar nicht so richtig sehen kann - kommt Licht. Da ist das Ding! Ich nehme es. Weiß nicht. Weiß nicht, welches Material. Weiß nicht, wie es heißt. Aber die Augen tun.

Lege das Ding zu den anderen Dingen. Ordne die Dinger. Ich will denen Namen geben. Da wird die Kiste sehr geschubst und alles fliegt, alles fliegt durcheinander, alles purzelt durcheinander, ich falle, überschlage mich. Liege ungeschickt. Etwas zerbricht. Etwas tut weh. Licht und Lärm. Mein Kopf verkriecht sich unter meinen Armen. Klein, ich bin so klein – Lärm und Licht sind groß und ich bin so klein. Unangenehme Sinneswahrnehmungen.

Es wird, es wird ruhiger. Die Stimmen schlagen sich, bekämpfen sich, bedrängen mich, doch es wird, es wird ruhiger. Wachsam dehne ich meinen Kopf, strecke achtsam meine Augen hinaus, hinaus aus dem Versteck, hinaus in die Fremde. Licht und Lärm sind nicht weg. Aber es geht. Es wird. Es muss.

Es ist ein Gefäß zur Aufbewahrung und zum Transport von Flüssigkeiten oder auch Gasen mit charakteristischer bauchiger, zylindrischer, quaderförmiger oder ähnlicher Form, mit Hals, aus verschiedenem Material wie Glas, Plastik, Metall, Keramik. Es ist ein Schneidewerkzeug mit Griff und Klinge. Es ist ein handlicher Flüssiggasbehälter zum Feuer machen. Es ist ein längliches, dünnes Werkzeug mit Spitze.

Wie? Wie entkomme ich? Wie entkomme ich der Schrille? Wie entkomme ich der Grelle? Und wie entkomme ich? Und wie entkomme ich beidem? Und wie entkomme ich allem? Ich weiß, ich weiß alles, ich weiß alles ist da, alles ist da in der Kiste! Ich weiß jetzt, wie ich dem Biss entkomme! Den Zähnen! Ein Mal – ein Mal für alle – ein Biss für alle Bisse!

Oh nein, ich bekomme meinen Kopf nicht mehr von meinem Körper! -- Oh nein, ich bekomme meinen Kopf nicht mehr von meinem Körper!! -- Oh nein, ich bekomme meinen Kopf nicht mehr von meinem Körper!!! -- Oh nein, ich bekomme meinen Kopf nicht mehr von meinem Körper!!!! -- Oh nein, ich bekomme meinen Kopf nicht mehr von meinem Körper!!!!! -- Oh nein, ich bekomme meinen Kopf nicht mehr von meinem Körper!!!!!! -- Oh nein, ich bekomme meinen Kopf nicht mehr von meinem Körper!!!!!!! -- Oh nein, ich bekomme meinen Kopf nicht mehr von meinem Körper!!!!!!!! -- Oh nein, ich bekomme meinen Kopf nicht mehr von meinem Körper!!!!!!!!!

Ertaste, ergreife, öffne, drinke, schmecke, drinke, wie Medizin. Riecht wie Medizin. Riecht wie – riecht wie – riecht wie – wie. Riechen ist weg. Nase tut nicht. Olfaktorische Wahrnehmung: Beendet.

Ich sag' A. Ich sag' Aaaahh und schieb' meine Zunge 'raus. Ich sag' Aaaaahhhh und schieb' meine Zunge ganz weit 'raus, ganz hinaus, hinaus in die Fremde. Schnipp! -- Schnapp!! -- Schmerz!!! -- aber nein, aber nicht genug, nicht befriedigend, nicht ausreichend, mangelhaft und ungenügend, Feuer an, Feuer frei! Leid an!! Schrill!!! Grell!!!! Schriller und greller!!!!! Viel und immer mehr -- weiter, sehr. Verbrenne und verlösche, schnell. Mund tut nicht. Gustatorische Wahrnehmung: Beendet.

Licht und Lärm, Lärm und Licht in meinen Körper: Muss weg, alles muss weg, alles muss 'raus! Am Anfang war der Lärm, dann kam das Licht. Am Anfang war die Nadel und eine Hand, eine Nadel in einer Hand, eine Hand die sich zitternd dem Ohr nähert. Lang und dünn. Da! Etwas langes -- und zugleich dünn. Etwas dünnes -- und zugleich lang. Aber lang. Aber lang. Stück für Stück und Ruck für Ruck. Es ist doch ganz klein. Es verschwindet doch im Ohr, es geht doch fort, geht hinein! Ruck für Stück - es verschwindet doch in den Ohren -- ganz leicht! -- plopp & plopp. Ohren tun nicht. Auditive Wahrnehmung: Beendet.

Am Ende, kurz vor dem Ende, kurz vor dem Ende des Tunnels, da war das Licht und da sprach Gott: Dunkelheit soll entstehen! Und die Nadel durchbrach das Auge, das spitze Ding bohrte sich in das andere Ding, ein letzter Biss, ein letztes Mal, das letzte Mahl, es war grell.

Visuelle Wahrnehmung: Beendet. Augen tun nicht. Doch es blieb grell, schrill und grell und die gewaltigen Stimmen fanden ihren Weg fortwährend durch die geschundene Hülle. Die Kiste ward hin und her gestoßen -- ins Unendliche gar unzähliges Mahl. Wer will es essen? Wer will sich die Kost zu Eigen machen? Wer will sich die Pein einverleiben? Ich meine, in Wirklichkeit. Und wer kann es. Wer, wer kann es. Wer kann es überhaupt.

Nur eines, jetzt nur eines, jetzt nur noch eines, jetzt nur noch dieses eine und es ist dunkel, ganz dunkel, unsterblich dunkel in der Kiste -- wie breche ich, wie breche ich mir das Rückenmark?

Sonntag, 15. Juni 2008

Der modern modernde Blutzeuge

Dies ist die kleine tolle Geschichte von Herr M. Herr M war eine sehr träge Persönlichkeit. Er schnitt sich mit seiner Teilnahmslosigkeit fortwährend ins eigene Fettgewebe. Das wurde ihm mit großer Geschwindigkeit gewahr. Dennoch konnte er es nicht vermeiden. Und da er es nicht verhüten konnte, begann er, daran Spaß zu haben. Viel Faszination sogar. Er setzte sich regelmäßig, tatsächlich täglich an seinen Schreibtisch, direkt vor seinen Bildschirm, der war sein Opfertisch und starrte sorglos in das lustvolle Geflimmer. Mehr tat Herr M nicht. Jeden Tag, viele Stunden. Eine unbestimmte kleine Menge von Zeit verbrachte er natürlich auch mit dem Aufnehmen von ess- und trinkbaren Stoffen, die Lebewesen zu sich nehmen, um den Organismus aufzubauen und gesund zu halten. Und nachts mit einem Zustand der Ruhe. Ja, den hatte er nötig! Denn es fiel ihm zunehmend schwerer, den ideologischen Blick eine große unbestimmte Anzahl von Zeiteinheiten, die jeweils dem 24. Teil eines Tages entsprechen, zwischen Mitternacht und Mitternacht konstant zu halten. Aber Herr M entwickelte eine industrielle Disziplin. Schließlich versetzte er sich in die Schaltstufe, sich den Unernst einzureden. Als auch das nichts mehr half, schnürte er sich ganz fest an seinen Stuhl. Als auch dies nichts mehr half, kettete er auch noch das Sitzmöbelstück, meist mit vier hohen Beinen, Rückenlehne und evtl. Armlehnen, an den Schreibtisch. Als auch das nichts mehr half, fädelte er auch noch das Anzeigegerät an den Tisch zum Schreiben, meist mit Schubfach und Schubfächern zur Aufbewahrung von Schreibmaterialien und Akten. Als auch dies nichts mehr half, begann er sich bei jedem Abwenden des Blickes mit einem Brusteinschnitt zu maßregeln. Als auch das nichts mehr half und die Brust schon ganz verschnitten war, verschnitt er auch noch die Arme. Als auch dies nichts mehr half und die Brust und die Arme schon vollkommen eingefeilt waren, feilte er auch noch die Beine ein. Als auch das nichts mehr half, kerbte er neben den bereits eingekerbten Körperteilen noch mehr Körperteile ein. Kurze Zeit danach waren auch die verritzt. Schließlich zog er die Nägel von den Fingern. Als er keine Nägel mehr an den beweglichen Gliedern der Hände vorfinden konnte, widmete er sich den Nägeln der beweglichen Glieder der Füße. Als er an Fingern und Zehen keine Horngebilde, bestehend aus mehreren übereinander geschichteten Keratinplatten an Fingern und Fußzehen, mehr vorfinden konnte, zog er die Zehen von den Füßen. Als er an der Standvorrichtung zehenlos war, zog er die Finger von den Greifwerkzeugen. Das funktionierte nur an einem Greifarm. Aber Herr M verhielt sich sachgemäß. Er zerstückelte die verbliebenen Fingerglieder zu kleinen öffnungsgerechten Teilen. Die Schneidewerkzeuge verwarf er alsbald an der Platte. Doch immernoch wollte sich kein Wohlgefallen konfigurieren. Vor Frustration versuchte Herr M schließlich das Denkzentrum an der Gedenktafel zu löschen. Da dies aber nur eine weitere und ideale Ohnmacht ergab, Herr M sich nicht mehr von seinem Standort erlösen konnte und er keine echten Freunde hatte, verhungerte er.

Mittwoch, 12. März 2008

Genese im Garten der Natur

Es war ein heit'rer Tag und ich beschloss hinaus ins Naturreich zu gehen. Alsbald wanderte ich über kunstvoll geformtes Ast- und Steinwerk, durchschweifte schattige Senkungen und bestieg die wohlproportioniertesten Hügel. Zu keiner Zeit hatte ich die Natur herrlicher erlebt, prachtvoll streckten die Bäume ihr stolzes Geweih gegen den hellblauen Himmel, die blattreich gepolsterten Büsche erblühten Schwindel erregend, das wallende Wiesenwerk glich einem blumenhaften Aquarell, die sprudelnden Bächlein sprangen erquicklich durch das leidenschaftliche Gelände und das vielstimmige Insektenvolk widmete sich mit göttlicher Hingabe seiner unermüdlichen Kunst. Das innigste Innerste ging mir gleich der flammenden Sonne brennend auf und ich war in derartiger Dimension emotionalisiert, dass sich unzählige Tränen über meine jugendlichen Wangen ergossen.

Als ich nun so vor mich hin einen vollendet gewachsenen Hang herabschritt machte ich in der Ferne einen wundersames Gärtchen aus, in welchem eine würdevolle Gestalt eifrig am Werke war. Dies Gärtchen war ganz entzückend bepflanzt, so dass man wohl merkte, dass darin viel Mühe lag. Doch je näher ich kam, umso mehr schwand die anfängliche Wahrnehmung. So umwehte das geschäftige Männlein kein märchenhaftes Gewand, nein, wie ich jetzt erkannte war es nur ein zerschliss'ner Fetzen, der sich erbittert damit quälte, die knochig genarbte Haut des Alten gänzlich zu bedecken. Dieser wischte sich jetzt, da er mich wohl auch erspäht hatte, mit einer Klaue einen Schwall Schweiß von der wuchtigen Stirn und rammte das ungeheure, pechschwarze Schaufelgerät, mit dem er bis eben zu Werke gewesen, in das frisch aufgebrochene Erdreich. Er reinigte sich hierauf seine Pranken an der stark befleckten Schürze und näherte sich dem Einlass des Gartens, um mich zu empfangen. Während ich nun herzlich darüber erfreut, endlich die Bekanntschaft des fremden Einsiedlers zu machen, gleicherweise an das Tor herantrat, studierte ich überdies auch kurzerhand die mannigfaltige Pflanzung, doch leider schien mir kein Strauch daraus vertraut. Aber ehe ich den alten Gärtner darauf hinweisen konnte, hatte dieser schon das Wort ergriffen und sprach: „Wiewohl weiß ich nicht weiter, vermagst du mir behilflich zu sein?“ Ich entgegnete fiebrig: „Es wäre mir ein gar stattliches Pläsier, Ihnen bei Ihrem Wirken eine helfende Hand zu sein!“ Indes ich fortfahren konnte hatte er mich längst blutvoll gepackt und zerrte mich besitzergreifend nahezu unerfreulich in das schumm'rige Gärtlein. Alldieweil zeigte ich Langmut, ich wollte mich freilich hinsichtlich dem Unvertrauten nicht als engherzig personifizieren. Doch welch' namenloses Grauen ergriff meine elende Seel', als sich mir endlich Gewissheit darüber offenbarte, was der Gärtner da in seiner Schonung zu züchten wagte! Das Aroma ew'ger Fäule verklebte mir das Geruchsorgan und die bildliche Erscheinung der in den lehm'gen Grund eingegrabenen Kadaver, die in vollem Umfang mit schrecklich vibrierenden Nekrophagenteppichen überwuchert waren, expandierten mir die Augen, bescherten mir giftigen Taumel und bösen Alpdruck! Oh geneigter Leser, in welch' Tollhaus war ich daselbst geraten? Kein einzig buntes Blüm'lein, oh Himmel nein, selbst das weich'ste Erdreich war restlos mit garstig' verkleinertem Leichenwerk gefüllt, aus welchem sich bitter dampfendes Geschlinge und schleimiges Exkrement erbrach. „Warum nur? Warum? Die Zottelbienen meiden dieses feine Gärtlein, dabei gebe ich mir doch Mühe in solchem Ausmaße! Meinem sehnlichsten Wunsche entspricht es, das große Wunder zu vollbringen, dergestalt widme ich mein karges Leben allein dieser Pflanzung, doch kein Pflänzelein derselben will gedeihen, warum nur, oh Herr, warum nur!“ Der beklagenswerte Pflanzer beweinte sein zarte Schöpfung mit den bitterlichsten Tränen, so dass es mir gar zu nahe ging und ich ihn zu trösten gewillt war. Doch er stieß mich garstig um, trat raschen Schrittes zum nächsten Darmgewächs dass sein Kleid nur so im Verwesungsdunst flatterte und ich beteiligt im Sekret harrend unwillentlich seiner klebrigen Hoden gewahr wurde. Hier warf er seinen Kot aus und brüllte dabei durch das Gelände: „Und ich dünge doch fortwährend mit dem erlesensten Dung!“ Da er sich mittl'rweile so beschäftigt zeigte, wirst du, geneigter Leser, es mir mutmaßlich nicht verübeln wollen, dass ich die schaurige Stätte auf Schleichwegen zu verlassen suchte, doch ergriff er mich ehe ich zur ersten Regung ansetzen konnte und zog mich, mit den heiseren Worten, mir das Glanzstück seines bisherigen Werkens zeigen zu wollen, samt seiner Schaufel weiter hinfort in die schimm'ligen Tiefen des Gärtchens. Nach mehrfacher Ortsveränderung durch namenlose Schrecknis, welche ich nicht näher benennen möchte und vermag, verwies er mich auf einen gewaltigen Baum, wohl in der Mitte der Sphäre, einen Baum, gebildet aus den vergammelnden Genitalien der Schlachtopfer, aufgerichtet zum abscheulichst stinkenden Phallus, den man sich nur ausmalen kann. „Ich arbeite hin und wieder noch gegenwärtig daran“, gab er mir zu verstehen und machte sich einhändig mit dem furchtbaren Grabwerkzeug ans Werk, während er sich mit der and'ren fortwährend den wallenden Scham rieb. Er grub derart einen weichen Zugang zur Wurzel, warf die Schaufel fort, kniete sich in den kotigen Pfuhl, drang mit dem ausgestreckten Arm in die Öffnung ein und holte große Mengen Exkrement hervor, mit dem er zu jonglieren begann, dass es nur so spritze. Es war eine ergreifende Freude, ihm dabei zuzusehen. „Mein edler Name ist Numinis und ich liebe meinen Penis“, trällerte er selbstvergessen. So verging die Zeit wie im Fluge und die Sonne ward eben im Begriff, unterzugehen, als ich behände aufsprang und meinem getreuen Gastgeber zu verstehen geben wollte, dass es mich nach meinem trauten Heim drängte. Da erstarrte er und bewarf mich mit Schmutz. „Du denaturierter Nichtstuer, willst mich verlassen ohne deinen versproch'ne Dienst erbracht zu haben?“ Dabei gurgelte erneut der Weltschmerz in seinem Gemüt, und ehe ich mich versah, hatte er mir die Schaufel in den Leib gerammt, zog sie geschickt wieder hervor, so dass mein Lebenssaft spiralförmig sprühte, mein Körper seitlich wegsackte und er mich lustig pfeifend auszuweiden begann. Ich war vor Befremdung wie gelähmt und auf wunderliche Weise noch ganz lebendig, so dass ich auch noch erfuhr, wie er mich alsbald warmherzig bäuchlings bettete, mir meine Schattenseite entblätterte und nahm. Sie schwebte einer Feder gleich sanft nebst meinem Schädel nieder und der Alte, in Flammen stehend, erglühte vor Wollust, liebkoste, küsste, schmiegte sich an sie, umschlang sie und begann sie zuletzt eifrig zu rammeln. Zu gern, hätte ich dir das, geneigter Leser, erspart, doch handelt dies von meinen letzten unvollkommenen Herzschlägen, von welchen ich dir gerne noch berichten möchte. Er war all so bald fertig, schmierte mir den Mund andächtig mit rauschenden Maden ein, feilte mir mitfühlend die Augen, hackte mir herzlich den Kopf ab, riss mir zugetan mein Zeugungsinstrument aus dem Unterleib, vergrub all den fleischlich sündigen Samen behutsam an der Wurzel im frisch geöffneten Leichenacker und alsbald ward ich sorgenfrei neugeboren, wuchs prächtig heran, wurde eins mit dem stolzen Baum, dem wundersamen Gärtchen, der herrlichen Natur.

Montag, 10. März 2008

Der dunkle Wanderer, Vitagen 9

Selbstvergessene Stille. Draußen waberte in sich verwoben - die Nacht. Vitagen gähnte und beschloss ins Bett zu gehen. Lang lag er so, aber entschlummerte nicht. Davon im zunehmendem Maße gestört, kratze er sich hinter dem linken Ohr. Aber das war nicht die Ursache. Was konnte es sein? Vitagen kratze sich nun auch hinter dem rechten Ohr, aber auch das war nicht die Stelle. Er drehte sich dreimal um seine Wirbelsäule, dreimal um die transversale Achse – nichts half. Er konzentrierte sich auf die grellen Farben hinter seinen Augen, er vergrub sich in seiner Matratze, er genoß eine weite, wundergrüne Wiese, ehrfürchtig gebannt vom übermenschlichen Grauen unberührter Natur. Der dunkle Wanderer mochte nicht kommen. Da war flugs er der strahlende Held und rettete die Welt - um sie danach in bodenlose Abgründe zu stoßen. Er dachte an alles und nichts, und nichts half. Alsbald kratze er tumultuarisch jede Lokalität seines Körpers und zuletzt legte er die richtige frei – es war sein Herz! Warum war ihm das nicht gleich aufgefallen! Doch ehe er endlich sein Zentrum kratzen konnte, bemerkte er eine unglaubliche Schwellung, das Herz wuchs und wuchs, es wuchs mit jedem panischem Schlag. Vitagen wollte sich aufrichten, aber es blieb ihm versagt, wie er verstimmt feststellen musste. Sein ganzer Körper verzog sich in widernatürlichen Zuckungen, Blut quoll platzend darnieder, die Arme flogen wild umher wie kleine bunte Servietten. „Bin ich denn besessen?“, entfuhr es ihm alsbald in glockenhellem Grausen.

„Aber nein“, lachte da der dunkle Wanderer keck. Er war blitzartig dem Fußboden entsprungen. „Du kleiner Wirrkopf, du redest Fisimatenten, nichts als Fisimatenten in deinem quecksilbrigen Getue! Du kannst nicht im Schlaf liegen, weil es dir verwehrt wurde! Aus diesem Grunde quellt dir das Herz dergestalt, dass du dich so vibrierend ergehst! Schluck's hinunter, es ist ja wahrlich nicht niederschmetternd! Da gibt's noch ganz andere Kalamitäten!“ Und mit diesen Worten löste er sich in nichts auf. Nach diesem Duktus erfuhr Vitagen also, dass es vielfach besser ist, wenn man tot ist.

Apparat

Plumps, plumps. Zu doof! Schon wieder ist mir der Ball mit dem eingestickten „Z“ heruntergefallen! Und der mit dem „G“ gleich dazu, so macht das einfach keinen Spaß! Missmutig hebe ich die drei bunten Lederbälle wieder auf und übe mich erneut im Jonglieren. Keine schwere Kunst, aber grundlegend: Es wird geworfen und gefangen – oder auch nicht. Ich versuche mich zu konzentrieren. Und wieder fällt ein Ball, der mit dem „G“. Meine Umgebung scheint einfach nicht zum Jonglieren geeignet zu sein: Überall Antennen, Schutt, Scherben, Kabel, Röhren und Beton. Und fern am Horizont, da schweben grüne Giftwolken, die kommen dort aus den großen dunklen Schornsteinen. Es sind aber nicht die einzigen Schornsteine, es gibt hier ja viele davon. Die Schornsteine gehören zum Apparat. Der Apparat, das sind die mächtigen Gebäude hier. In den Gebäuden sind endlose Hallen. Und in den Hallen sind die Zylinder. Wozu die sind? Das weiß ich nicht, mein Schöpfer hat's mir nicht gesagt. Ich denke, das geht mich auch nichts an. Ich bin nur hier, um zu spielen. Also hör endlich auf, mich mit solchen Fragen zu stören! Ich muss jonglieren! Ich muss mich aufs Fangen konzentrieren! Wenn ich die Bälle nicht fangen kann, dann wird nichts aus mir, das hat mir der Schöpfer gesagt. Also, ich jongliere jetzt weiter! Und schon wieder ist mir der G-Ball runtergefallen! Es ist aber auch zu schwierig, die Gedanken bei diesem Lärm beständig auf die Bälle zu richten! Überall zischt und faucht's – und entfernt ertönt dieses dumpfe Grollen. Und dann dieser schrille Pfeifton, der sich in mein Ohr gefressen hat, mich nicht mehr los lässt – es ist zu schrecklich! Aber es ist ja überall so und eigentlich möchte ich mich auch nicht beschweren, ich möchte nur die Bälle werfen und fangen. Mein Schöpfer ist auf einer langen Reise, er kommt nie mehr zurück. Da will ich ihn nicht enttäuschen – und vielleicht ist das ja die Lösung, vielleicht kommt er ja wieder zurück, wenn ich nur alles richtig mache! Aber ich glaube eigentlich nicht daran. Seit wann mein Schöpfer weg ist? Das weiß ich nicht, es ist lange her. Glaube ich. Es war komisch, ich wachte auf und er war weg. Ich durchsuchte die ganze Umgebung hier, schnitt mir dabei bös' die Finger blutig, stolperte oft und fiel in ätzende Giftpfützen und einmal fiel mir sogar meine bunte Brille vom Kopf und ich hab' sie fast nicht mehr gefunden! Das war vielleicht ein Schock für mich, das kannst du mir glauben, aber ich hab sie ja zum Glück wiedergefunden. Seitdem hat sie diesen Kratzer hier, aber wenigstens ist sie nicht kaputt! Es wäre ja auch schlimm - du musst wissen, ohne bunte Brille sehe ich keine Farben. Aber lass mich weiter erzählen! Also, irgendwann, es war schon sehr spät, da kam ich dann schließlich wieder zurück. Und niemand war da, kein Schöpfer. Ich war natürlich ganz verzweifelt und heulte und machte den Boden dabei ganz furchtbar naß - doch dann stand plötzlich der graue Alte mit dem blitzenden Hut hinter mir und erzählte mir von der Reise des Schöpfers. Er wollte, dass ich mit ihm komme, aber ich wollte nicht, ich hatte Angst - du musst wissen, der Alte mit dem blitzenden Hut hat kein Gesicht. Und er ist schon lange hinter mir her. Warum, weiß ich nicht. Ich will es auch nicht wissen, also hör auf mir solche Fragen zu stellen! Ich weiß auch nicht, wer er ist - sein Kleid ist unnatürlich rein, seine Worte fallen bitter über einen! Ich bin weggelaufen. Habe mich versteckt. Hinter dicken undichten Rohren, aus denen übler schwarzer Dampf quoll. Ich musste schrecklich husten und hatte Angst, er könnte es hören. Aber er fand mich nicht. Und seitdem hab' ich ihn nie wieder gesehen. Ich möchte ihn nie wieder sehen, ich muss frei sein! Muss jonglieren, das hat der Schöpfer gesagt. Immerzu jonglieren. Also lass mich.


Ach! Musst du mich denn schon wieder stören? Jetzt sind mir schon wieder die Bälle zusammen gestoßen und heruntergefallen. Was willst du - du sagst, du hast es eben ganz in der Nähe blitzen sehen? Ja? Nun, das geschieht hier ganz oft. Und bewegen tut sich auch andauernd etwas. Das sind die Maschinen. Die gehören zum Apparat. Und der Apparat gehört – das hab ich dir schon erzählt? Seltsam. Ich kann mich gar nicht daran erinnern - aber nun gut, lass mich! Weißt du, ich muss jonglieren. Und – was ist das, was packt mich da? --- oh nein, es ist der Alte! So hilf mir! Er tut mir schrecklich weh, hat die Faust in meinem Haar - er schleift mich fort! Und dort hinten sind meine bunten Bälle, ich darf sie doch nicht zurück lassen, werd' sie doch nie wieder finden! So hilf mir doch - warum hilft mir keiner? Warum kann mir keiner helfen? Der Alte mit dem blitzenden Hut zerrt mich in den Apparat, stößt mich gnadenlos durch die Hallen --- endlos! Es ist so dunkel hier drin, ich kann kaum etwas erkennen. Er drückt mich grob gegen die Wand, schlägt mir ins Gesicht - oh nein, meine bunte Brille verbiegt sich, ein derber Schlag durchwirbelt meine Gedanken und ich höre die Brille entfernt aufschlagen und zerbrechen! Aber ich brauch sie doch! Er schlägt mir in den Bauch, ich bekomme keine Luft. Tränen schießen mir in die Augen, es tut so weh! Ich krümme mich und sinke auf den schmutzigen Boden. Überall Scherben - Blut in meinem Mund, an meinen Händen. Ich höre, wie eine schweres Schloss entriegelt wird, eine schwere Tür schwingt auf, prallt donnernd gegen die kalte Betonwand. Und ich höre den Alten: „Es ist soweit.“ Unheimlich hallt die böse Stimme durch die Dunkelheit, nur spärlich erhellt nebeliges Licht seine Gestalt. Er packt mich, hebt mich mühelos auf, wirft mich durch die Tür - hinein in den Zylinder! Ich schreie vor Angst, schlage auf, etwas bricht. Das letzte, was ich sehe, ist die verschwommene Gestalt des Alten in der Tür – er hebt langsam den Arm, kitzelt sich unter der rechten Achsel und bricht dann in ein hässliches Gelächter aus. Die Erscheinung schwindet, die Tür schlägt zu. Riegel rasten ein, mit Getöse läuft die Maschine an: Flammen dringen in die Kammer - meine Haut wirft Blasen, ich fange Feuer, brenne, schreie, sterbe.


Schwarze Asche wirbelt aus den Schornsteinen, die Landschaft bebt, die Industrie zittert. Überall bilden sich Risse unter ewiger Spannung – dann Explosion, der erschrockene Schrei des Alten, ein Atompilz streichelt die Sonne. Ich weiß nicht, ob sie lacht oder weint.

Zimmerexistenz

Es ist etwas kühl hier. Eines der verschwommenen Fenster steht immer einen Spalt offen. Offenbar möchte es keiner schließen. Alles ist so undeutlich und ich weiß nicht, warum. Ich weiß ja nicht einmal, wer ich bin. Es existiert kein Schein. Das Ding sitzt ganz allein in dunkler Atmosphäre. Nicht, dass es außergewöhnlich wäre, es ist ja immer so. Ohne äußere Bewegung wird sich wohl alles im Innern abspielen. Ich kann darüber leider nur Vermutungen anstellen, doch spiele ich schon lange mit dem Gedanken. Überhaupt spiele ich sehr gerne: Es ist lustig, das Ding mit bunten Bällen zu bewerfen! Leider nie eine Reaktion. Es hat noch nie reagiert - soll ich mich näher heran schleichen? Ich traue mich nicht. Nur ein paar Schritte --- aber dann packt mich die Angst --- es könnte passieren! Ich ziehe mich lieber wieder in das dunkle Eck zurück, kauere mich nieder, entsende mein Auge: Ganz sachte löst es sich, ganz sachte schwebt es empor – das Ding soll es nicht bemerken, es soll mich nicht entdecken! Ich lasse es an den scharfkantigen, kaum klar auszumachenden Hindernissen vorbei gleiten. Nur nichts berühren, denn - du musst wissen, mein Auge ist sehr empfindlich! Möchte nicht, dass es verletzt wird, möchte nicht, dass es stirbt! Einmal rund durch das neblige Wasser. Angekommen. Ich lasse es empor steigen - es ist anstrengend, obwohl ich es oft geschehen lasse. Gleich sehe ich das Ding wieder – da ist es! Ich beobachte es. Lasse mein Auge still im Wasser treiben. Es bewegt sich schon lange nicht mehr. Das Ding ist immer noch verschwommen, warum ist alles so verschwommen? Mir gefällt es nicht. Es gibt keine Tür. Neben meinem Auge schwimmt dieser Text. Und ich kann ihn einfach nicht lesen! Dabei sind die Zeichen so bekannt – aber undeutlich. Ich konzentriere mich, kneife das Auge zusammen. Und dann eine Bewegung, ich schrecke zurück, es passiert, das Auge entfällt mir - bricht am Grund. Im dunklen Eck schwebt ein Spaßmacher, der ohne Hände mit bunten Bällen jongliert.

Intima

Sie feierten. Wild. Der Raum, voller Energie. Ineinander verschlungene, sich windende Körper, nass vor Lust und Begierde. Alles ist Schwingung und alles war Schwingung. Das dunkle Zimmer mit dem roten Schein erbebte, ächzte gar vor Leben, es war ein Atmen, so intensiv wie sonst nichts in der Welt, ein Rhythmus, Leid und Lust. Es war ein Platz, abgeschieden von der Welt. Selbst der gute alte Mond hatte seinen Blick schon vor langer Zeit abgewandt, kein weiser Schein durchdrang das schmutzige Fensterglas. Und selbst ich habe hin und wieder so meine Schwierigkeiten, das dunkle Zimmer mit dem rotem Schein mit meinen Sinnen zu durchleuchten. Zu schwer steht die Luft, der Geruch der nassen Körper vernebelt einem das Gemüt. Der stöhnende Atem nimmt einem den eigenen. Und doch war diese Nacht etwas besonderes. Mit einem Aufschrei wühlte sich ein Körper unter vielen explosiv in die Höhe: Intima, so ihr Name. Schön wie ein Tag bei Sonnenschein, doch im Inneren schwelte es dunkel, gleichsam der mondlosen Nacht.

„Freunde!“, so ertönte es durch die brüchigen Wände. „Dieses Fest überdauert nun schon acht Tage, sechs lange Nächte der Wollust, des Triebes und des Lebens sind vorüber, es ist nun die siebte und letzte aller Nächte, wir müssen unseren Weg weiter gehen! Wir gingen durch das Feuer...“, sie schwankte, „...und sind nun an jenem Punkt angelangt, von dem aus es kein zurück mehr gibt! Wir haben viel durchgemacht, keine Frage, doch soll dies nun unser aller Ende sein - das irdische Leben hat uns Last auferlegt, zu viel Last, und nun erhebt euch, fasst euch bei den Gedanken um die letzte Wollust...“ - sie lachte spöttisch, wie es nur Menschen tun - „...zu empfangen!“

Es waren die letzten Worte, die Intima in diesem Leben sprach.

Der dunkle Wanderer, Vitagen 8

Gefangen in seiner Seifenblase schwebt Vitagen über dem Gleis. Es ist lang, kühl und funktioniert. Doch schon bei der nächsten Flut wird ihm ob der Farben Freude impliziert, er schwebt und lebt frohen Mutes durch zivilisatorisches Unglück, als wäre er ein vollautomatischer Kaffeeautomat. Und erfreue sich daran.

Der Motor läuft, der Rotor röchelt und die Menschen in der Fußgängerzone lächeln sich einander aufmunternd zu, kalter Wahn und schon geht es um die Ecke, gibt es jemanden, der sie zählt? Vitagen freut sich bei trübem Licht, der dunkle Wanderer schläft tief, er kann den Kaffee genießen.
Ach, geht nicht – es funktioniert nicht, bald ersetzt, Fall einer Garantie. Bei diesem menschlichen Gedanken freut sich Vitagen wie ein Kind und beschließt, dem Betrunkenen heute Alkohol zu schicken. Das beste Automat läuft nun mal nicht ohne Treibstoff - hört da jemand Hilfeschreie?
Nur diese Jammerlappen.Vitagen schreitet durch Fäkalien und lässt Wasser. Hände waschen nicht vergessen, verbrannte Luft spiegelt sich in seinen Augen. Es bricht hinter ihm.

Nur die Technik. Vitagen hält sich den Bauch, er lacht mit Schall, denn alles erstrahlt in glitzernden Strahlen, durch die Seifenblase hindurch ergeben sich die schönsten Effekte. So genießt Vitagen das Leben wie ein jedes Wesen in der Stadt. Und wieder geht es um die Ecke.
Da stehen Kinder, umzingeln Tauben, zertreten sie in vollem Spiel. Vitagen denkt an seine eigene Jugend und muss gutmütig lächeln - wie wenig sich doch Inhalte scheiden, ganz die Natur. Und so breitet er die Arme aus und umschließt die Welt in Freude, atmet sie ein, die gute Luft, flugs springt er dahin, eine Ampel rot, ein paar Autos stehen Schlange, geschickt hüpft Vitagen auf allen Vieren von einem zum anderen, versenkt seine Nase in den Abgasanlagen, die Luft wird besser und man schnuppert Freiheit.

Konsequent färbt sich ein Licht symbolhaft grün, Vitagen verliert ein Bein. Doch das tut nichts zur Sache, nach großen Mengen Blutverlust bedingt durch große Mengen Wartezeit hat er schon ein neues, kaputt, ersetzt, Fall einer Garantie, einmal totale Indifferenz, bitte, danke und zurück auf das Gleis, Vitagen rattert durch die Mengen, links und rechts, da hängen jetzt die Leichen, immer diese Garantiefälle, arme Menschheit, armes blaues Pflänzchen, die Unabhängigkeit bekommt dir nicht.

Er muss nur aufwachen, so schwer ist das ja gar nicht.
Erst löst sich der Verstand, dann ist nur noch der Körper Feind.
Durch diese Schranke kann man ihn erinnern, belehren, predigen,
keifen, schreien, schlagen, treten, werfen, brechen, biegen und zerformen.
Bis auch er endlich, endlich soweit ist.
Er wird nicht schreien. Er wird nicht scheitern.
Man führt ihm die Spritze ein, etwas platzt, er uriniert ein letztes Mal
und man recycelt ihn.

Ich wusste, du wirst fragen.

Der dunkle Wanderer, Vitagen 7

- Ein Fragment der Nacht

Tiefe Wellen. Bewegte Wellen. Und immer kräuselt sich etwas, ein gar schöner Anblick. Das Wasser umspült die Sinne, und ich liege hier harmonisch auf meinem Boot. Der Seegang ist ruhig, seelentief gelassen. Und ich schaukle mit dem Schiff. Wie ein Pendel, welches mein Denken zu bestimmen wagt. Und ich denke, denke mich ins Wasser, fange an zu treiben und schwebe hinab ins Bodenlose. Der Glanz des Abgrunds kitzelt meine Wange, ich bekomme das Verlangen, die Hand wohl kratzend auf und ab zu bewegen. Alles gleich den Wellen. So wandle ich auf dem Gewässer und bemerke, dass das Boot aus Papier gefertigt ist. Und alles dehnt sich, das Wasser schlägt an die kaltweißen Wände. Wohnt hier der dunkle Wanderer? Oder ist alles nur ein Trugbild meiner kraftlosen Materie, die nun endlich auch rational ans Aufgeben denkt? Das Zimmer ist groß und mit Wasser gefüllt. Und immernoch schaukelt das Schiff, alles weit und leer.


Die Türe steht offen und so treibt das Boot gemächlich weiter, mich weiter in den nächsten Raum, der dem ersten auf die Wassermenge hin gleicht. Von Raum zu Raum, das Boot steht, nur die Umgebung scheint belebt. Es ist alles so vertraut: Nicht ich werde ausgewechselt, nein, man wechselt nur die Form. Nur die Form, nichts als die Reform. Und ich muss mich doch krümmen, ich weiß ja auch nicht warum. Etwas hält dies für richtig und deshalb halte ich es auch für richtig und aus, krümme mich, liege gekrümmt auf dem Boot aus Papier. Die Reise ist ja ganz angenehm auf diese Weise, ganz angenehm, ja. Die Zimmer rennen hastig, schwimmen, rennen, ziehen vorbei. Und dann durchdringen die ersten Projektile die Schiffshaut,
ich werde unruhig und verfolgt.


Anderes Schiff, gleiches Schiff, eine Spiegelung und doch feindlich. Ich weiß auch nicht. Doch mein Untergrund schwankt und ich weiß, wenn er fällt, so falle auch ich. Also beeile ich mich, Zimmer dazwischen zu zerren. Und es funktioniert nicht.


Quadratische Zimmer, die Wände weiß, mit Wasser gefüllt und mein Boot: Das nächste und alles kommt schneller als erwartet. Und plötzlich immer schneller. Die Zimmer rasen wie toll. Und dann stürzt die Wasserfläche nach unten, vor mir der Wasserfall. Ich reagiere angemessen hysterisch. Versuche, zu wenden und es gelingt und ich möchte zurück. Lieber zum Feind als zum Untergang. Ich treibe das Schiff an, möge es doch dem Fluss trotzen. Das Negativ stürzt an mir vorbei. Und ich höre den dunklen Wanderer lachen.

Der dunkle Wanderer, Vitagen 6

„Wenn doch nicht alle Tagträume fiktiv wären“, seuftze Vitagen und legte sich um.

Der dunkle Wanderer, Vitagen 5

Es war finster. Nun, so finster auch nicht. Gerade so, dass man nichts mehr erblicken konnte.
Vtagn saß. Wo wusste er nicht. Es war auch ganz und gar belanglos. Überhaupt fragte er nicht. Er hatte nicht zu fragen, saß da und fror. Es war nicht etwa kalt. Es war angenehm. Vtagn fror, weil er wusste, dass er ein Negativ war. Ein Negativ im Negativ. Es kann ja schon ideenlos verwirrend sein. Und so saß er da, fror und hasste. Er hasste es. Es war alles, was man nur hassen konnte, was hassbar erschien. Es war zB. die keifende Stille. Und Furcht, umsonst geboren zu sein. Und Angst vor allem Positivem. Und Panik, nicht auszureichen. Und dieser Punkt: „.“

Einfach alles, was in der einen oder auch der anderen Weise, ja, überaus konstant immens irre-störend-unnötig-sinnlos erschien und ihn langsam die unendliche Wendeltreppe des Wahnsinnes hinab stieß. Seine Wendeltreppe. Er wusste nur mal wieder nicht, welche Etage.

Das war egal – Orte sind ja bekanntlich belanglos. Nur der Inhalt ist von Bedeutung, niemals die Form. Und so saß er da, fror, hasste es und schmiedete einen Plan. Er hatte nämlich vor, der neue dunkle Wanderer zu werden. Es war nur nötig, die momentane Vision durchzusetzen. So einfach. Und so schwer. Unendlich schwer. Vtagn wusste nicht, warum er kämpfen musste. Sich bemühen musste. Es war wohl Vitagen. Ja ja, immerzu diese Gedanken an Vitagen. Diese kleinen Wesen, die kommen und gehen, einen im Sturm nehmen um einen im nächsten Moment wieder in endlose Abgründe zu stürzen. Es machte keinen Spaß, innerlich zerrissen zu sein. Oh doch.

Vtagn schnippte sich an seinen Gaumen, rappelte sich auf und rannte los. Einfach in die Schwärze hinein, er stürzte sich ins Nichts. Sowas macht Spaß, solang kein Widerstand kommt und es kam keiner, und so, und nur so konnte es Spaß machen. Und dann rannt er in den dunklen Wanderer. Der sah das Übel kommen, lachte und stellte sich genau so, dass Vtagn auch in ihn rennen musste. Das war nicht einfach. Der dunkle Wanderer konnte zwar sehen (der dunkle Wanderer ist toll), aber Vtagn bewegte sich im anscheinend nichtigen Bereich und nicht im anscheinend wichtigen. Soll heißen, Vtagn rannte gefühlsgesteuert. Und Gefühle sind nicht konstant, einfach oder gar klar erkennbar. Und so erschien und verschwand Vtagn mal hier und mal dort. Mal war er schnell, mal langsam. Mal hüpfte er auf einem Bein und mal auf dem Mittelfinger. Einmal kroch er sogar, indem er sich auf die Seite legte, ein Bein hinter sein Ohr klemmte, sich die Finger verknotete, den kleinen der linken Hand mit einem Skalpell gar ganz abtrennte (das Blut war leider nicht zu sehen, Vtagn heulte deshalb immer etwas) und ihn sich dabei lässig ins Ohr steckte. Dabei stöhnte er „öp.. öp... öp....“ und bei jedem „öp“ glitt er ein wenig, es waren nur Millimeter, über die nicht erkennbare Oberfläche des anscheinend nichtigen Raumes. So konnte man eigentlich auch sagen, er schwebte einmal sogar, beachtete man aber die Geschwindigkeit, und dass es ein Negativ war, so konnte man es quasi als unsichtbarer Beobachter mit der Gabe des dunklen Wanderers durchaus als kriechen betrachten. Ach, ist doch egal.

Vtagn rannte in den dunklen Wanderer. „Hurra!“, brüllte er dabei, „Hurra, der dunkle Wanderer!“. Und so war er nahezu eins mit dem Wanderer und er war ganz „happy“, wie der entwurzelte Deutsche sagen würde.

Und während er so war, überlebte Vitagen, er lag gerade in seinem Bett, es war nachts, die Uhr warf „0:10“ in rotem Glanze an die Decke und Vtagn wurde endlich gänzlich zum Herrscher. Der dunkle Wanderer, nun nahezu im Vitagen enthalten, mahnte ihn durch kleine Wesen, doch auch zu bedenken, dass viel Schmerz dabei wäre. Doch Vtagn liebte den Schmerz, Vitagen hatte ihn somit auch zu lieben und so war dies mehr Ansporn als Hindernis für den, der nahezu endgültig überlebt war.

Er blickte nur liebevoll auf die leblose Hülle des dunklen Wanderers, schnitt dieser dann mit einer einzigen Überlegung den Kopf herunter und kickte ihn in die unendlichen Weiten der negativen Emotionen. Er jodelte dabei. Denn Wahnsinn ist nicht nur eine Form des Überlebens, nein, Wahnsinn macht auch Spaß, sehnsüchtig glücklich und erschafft Identität – und das ist ja schon immer das wichtigste gewesen.

Der dunkle Wanderer, Vitagen 4

Es war der Müll. Vitagen watete im Müll. Und labte sich an seiner Trübsal. Er überstieg die Schatten seiner Artgenossen, stand vor einer Wand, bestieg die Leiter, die daran befestigt, und erkannte, dass die Wand ein riesenhafter Müllbehälter. „Hinter jedem Lachen stecken Tränen“, so sprach eine Stimme in seinem Inneren. Und Vitagen stieg weiter, erklomm den Gipfel, streckte die Arme weit aus und schrie sein Leben in das weite Tal des Abfalls.

War es nicht schön? Nein, es war nicht schön, aber hier war ja auch keiner, den es kümmern konnte. „Moment!“, jemand tippte Vitagen auf die Schulter, und erschrocken fuhr dieser herum, verlor den Halt, und stürzte gar tief, doch landete er in sanftem Wasser, und sah sich verwundert in einem fantastischen Bachlauf wieder, umsäumt von Natur, so wild, frei und ungezähmt. „Wie konnte ich mich nur hierher denken? Könnte ich es nur immer!“ Vitagen dachte und schwieg, verlor sein Sein in Ruhe. „Ich war der Denker!“, so erhielt er endlich Antwort. Ein rascher Blick genügte, und Vitagen lachte über die Anwesenheit des dunklen Wanderes. „Ach!“, so sprach er ganz ergriffen, „wie das klare Wasser nur so um mich saust, es ist eine Pracht, eine Wonne, ich fühle mich ganz und gar lebendig!“ „Ja, Vitagen. Fühle dich gar und ganz lebendig, hier kannst du es. Doch wird man dich wieder herunter ziehen, dem Falle folgt ein Aufstieg und dem folgt erneut ein Fall. So wirst du herum gewirbelt, vom Mond zur Sonne und zurück, und immer haftest du auf Erden.“ „Ach, ist das nicht wunderbar!“, Vitagen lachte. Er spielte mit ein paar Fischen, die aufgetaucht waren und nun gar lustig um ihn sprangen. „Du verschließt dich meinen Worten, Vitagen.“ Vitagen hielt inne und erwiderte des Wanderers Blick. Dann sprach er: „Oh, du Alptraum, lass uns eins sein!“, verließ hierbei die Fische und sprang auf, sich mit dem Wanderer kameradschaftlich im Blute zu verbinden. Doch dieser wich, zückte einen Rosendorn und malte in den Irdischen das Mal der Sehnsucht. Vitagen schrie und sein Kopf zerstob in Fetzen, sein Geist verging in grellem Licht und er fand sich in einer schwarzen Brühe liegend, die erbärmlich stank. Um ihn wucherten die Toten im Müll. Da wollte er schreien, doch erblickte er in weiter Ferne den dunklen Wanderer, sah, wie dieser sich gerade an einem verfaulten Stück Hüfte verging und dabei in vollkommenem Wahn schallend lachte und Vitagen lachte mit, er lachte und lachte voller Weisheit. So offenbarte sich also erst bei Schmutz, Schweiß und Siechtum das Glück.

Sonntag, 9. März 2008

Der dunkle Wanderer, Vitagen 3

Vitagen erwachte in einem Körper um genau 2 Uhr 04 und 11,07 Sekunden. Seinem Blick eröffnete sich sein Zimmer, er stand flugs auf, kleidete sich an, verzichtete wie gewohnt einer unbestimmten Neigung folgend auf eine frühzeitliche Nahrung und verließ das Haus. War es der Abend oder der Morgen? Es konnte ihm gleichgültig sein, war es doch finster, ob auf diese oder andere Weise. Er rannte ein paar Schritte und aus den Schritten wurden Kilometer. Er hetzte um die Ecke und stieß sich den Schädel gar bös'. „Na nu'!“, dachte Vitagen benommen bei sich. „Jetzt gehe ich diesen Weg schon jahrelang, und noch nie war an dieser Stell’ dies’ Hindernis!“ Nachdem die hell strahlenden Sterne und der bleich-kühne Mond vorüber gezogen, beschaute er sich das Hindernis näher, es war ein Schild, auf welchem die folgende Mitteilung geschrieben stand:

„D.D.W. empfiehlt:
Treten sie unbedingt dem Verein „Mut zur natürlichen Hässlichkeit“ bei! Gegen künstliche Normbildung, frei sei die Natur!“

Vitagen zeigte sich glücklich, besah sich die angegebene Kontaktadresse näher und plante einen, wie er hoffte, kurzen Umweg ein. Er lief Häuserecke um Häuserecke ab, doch schien sich die angegebene Straße nicht an ihrem ursprünglichen Flecke befinden zu wollen. Vor Erschöpfung keuchend hielt er inne, stütze sich gekrümmt an einen Laternenpfahl und presste die Hand in den Bauch. Durch das kühle Licht der Laterne bekam die sonst so unkenntlich finstre Umgebung eine unwirkliche Aura, fast war ihm, als begann alles um ihn herum zu leben und zu singen. Hier und da schnappte er einige Fetzen auf, es waren Verse wie:
„Scharlachrot ist der Birnbaum, der Birnbaum ist grau“, oder „So rosa die Nacht, so grün das Wesen, so schwarz das Licht“ oder auch einfach „Ich wünschte mir, das Leben weinte blaue Tränen“. Wie einen Traum, so versuchte er das Erlebte mit dem Verstand abzuschütteln, und es gelang sogar. Vitagen rappelte sich alsbald auf, um weiterzusuchen. Doch bereits nach wenigen Schritten stolperte er, fiel der Länge nach unsanft. Lange harrte er auf dem rauen Asphalt. „Was treibt die Menschen nur dazu“, so kamen ihm schmerzhaft die Gedanken, „das natürlich feine Wesen der Welt mit derartig seelenlosem zu belasten. Der hoheitliche Mensch, er überbaut ja alles Leben und fragt sich am Ende, wo und wie es nur verschwinden konnte!“ Das Blut stahl sich ihm schwer aus den Wunden, doch beim Aufprall der Tropfen auf dem harten Grunde kamen allmählich die subtilen Gesänge zurück und von neuer Energie gepackt sprang Vitagen auf, säuberte sich, indem er ein Taschentuch zu Hilfe nahm und sprang voll kindlicher Freude einem neuen Ziel entgegen, dabei stetig von dem einen auf das andere Bein wechselnd.

Unterwegs, einige leblose Straßen weiter, traf er auf einen Gärtner, der kopfschüttelnd an einer Verkehrsinsel stand und den spärlichen, offensichtlich bald sterbenden Blumenwuchs mit unverständlichem Blicke abmaß. „Was soll ich nur tun“, so redete er sich zu, „jede Methode versagt, doch will ich ja nur ein wenig vom Leben und von der Schönheit der Natur hier in den Verkehr auf dieser Straße bringen!“
„So zerstückle er die Straße und pflanze dann seine Blumen, und er wird sehen, wie das Werk der Natur wieder Leben hierher bringt!“, brach Vitagen unaufgefordert in den Monolog, er war einfach hinzu getreten um sich, neugierig geworden, das Problem aus der Nähe zu beschauen. „Sei kein Narr“, so sprach der Gärtner, „wenn ich die Straße entferne, so entferne ich auch die Bedeutung dieses Ortes. Durch die Straße hat der Mensch Verbindung, ohne erreicht er ihn nicht, er erreicht nichts!“
„...erreicht nichts.“, echote Vitagen bedacht. „Da magst du Recht haben, oh Freund der künstlichen Bepflanzung, der Mensch erreicht die Natur doch nur noch durch künstliche Methoden voller selbst erschaffener Technik, ich will sagen, selbst verpfuschter Technik! Er hat Genuss und Ruh’ verlernt und kann sich nicht mehr in aller Sinnlichkeit einfach aufs Gras betten um den nahen Wald zu spüren und ihn in sich aufzunehmen, nein, die Kleidung könnte ja Flecken davon tragen, so benötigt er also zumindest eine sterile Bank. Und wohl dazu gleich auch das Telefon, bei aller Notlage. Und so weiter! Doch verschafft er sich ja selbst in all der Hektik und mit jeder weit’ren leblosen Technik immer mehr der Notlagen, da er sich mit ihnen ja immer mehr der Natur, dem Ziel und Sinn entzieht! Wie kann das nur übersehen werden! Wie! Bei all der Widernatur, über die man so klagt! Warum kann man die Natur nicht nehmen und lassen, wie sie ist? Ich stehe hier und frage mich das, weil ich einen Gärtner sehe, der sich wundert, warum seine Samen nicht gedeihen wollen! Herr Gärtner, so schauen sie doch nur genau hin! Wer will denn allein der Schönheit wegen wachsen, um bei beginnender Reife schon danklos abgetötet und abgelöst zu werden?“
„Nun, vergleiche er mir nur nicht die Pflanze mit dem Menschen!“, tadelte der Gärtner unfein. „Er erweist sich ja am Ende noch als dumpfer Träumer! Der Mensch ist zur Reife da, die Pflanze aber ist nur ein nied’rer Diener, der ihm zu gehorchen hat, oder er wird zertrampelt, so will es das Gesetz!“ Das letzte ward geschrien und der Gärtner hüpfte und sprang auf den leblosen Blümchen herum wie ein Toller. „Mögest du eines Tages so leblos werden wie das Wesen deiner Technik“, so dachte Vitagen bei sich und zog ohne ein weit’res Wort traurig von dannen.

Der dunkle Wanderer, Vitagen 2

Vitagen lag am 24. September des Jahres 2007 gefesselt in einer dunklen Ecke und in seinem Mundraum schmerzte es gar fürchterlich, doch konnte er sich das nicht erklären.
Er konnte sich überhaupt nichts erklären und hielt seine Augen hysterisch verschlossen bis er von unzähligen starken Händen gepackt, geschüttelt und auch gerüttelt wurde. Die Fessel war gelöst und Vitagen fiel jämmerlich zu Boden. Man trat ihn in der Seite, er konnte die Anwesenden nicht erkennen, doch fühlte er den Schmerz. „Aufstehen, an die Arbeit!“, keifte eine schrille Stimme. Mühsam lies er das Licht in sich scheinen und erkannte eine groteske Erscheinung seines hoheitlichen Wahnes. Doch ehe er ein Wort stammeln konnte ward er aufgerichtet. Vor ihm stellte man einen Birnkreis auf, der im Durchmesser knapp zwei Meter betrug. „Da hinein“, schrie man ihn an und schon wurde er in den Kreis gesetzt. Und die Erscheinung verschwand.

Vitagen setzte sich und erbrach sich. Seine Augen gewöhnten sich allmählich an das morgendliche Licht, doch war dies, welches er erblicken konnte, gar nicht von natürlicher Hässlichkeit gezeichnet, es war garstig brav, industriellhübsch und plastikwunderbar, so dass er aufs Neue geben musste. Er wusste nicht, was er zu essen bekommen, doch schien es eine Öffnung in den Boden zu brennen. Er warf den Blick hinunter, der alsbald zurück geworfen wurde: Tief unten saß eine bläulich-schmutzige Gestalt, die aufgrund der plötzlichen Aufmerksamkeit scheu aus dem Bild sprang. „Huhu!“, rief Vitagen herunter. „Huhu, kleine Gestalt! Was magst du sein, komm zeige dich, ich will einen Blick auf deine Fratze wagen!“

Zunächst starb alles weiter in der Stille, doch dann hörte Vitagen eine Antwort wie ein fernes Echo von den Wänden schallen: „Hüha, hähu, hihö, höhuhä!“ Und dann ward Licht in dem Tunnel unter ihm und er erblickte allerlei zarte Natur, so zierlich schön dass sich seine Augen feucht färbten. Und ganz hinten, im fernsten Winkel, den er gerade noch erblicken konnte, da saß der dunkle Wanderer an einem kleinen Feuerchen und lachte freundlich herüber und winkte, dass der arme Vitagen nur so verging. „Ich komme herab! Ich komme herab! So warte nur!“, so rief er und wollte sich in das Loch schwingen, doch da war es schon entschwunden, der Augenblick war vorbei, der Moment vertan, Vitagen verkroch sind in bittrer Indifferenz. „Ach, könnte ich nur dem Menschen helfen! Doch liegt’s wohl nicht in meiner Macht, sterben muss er, sterben.“ Bei diesen Worten packte man ihn, riss ihm die Arme auf und hing ihn an den Galgen. Der Plastikschemel unter ihm schwankte bedrohlich, doch wurde er zudem angestoßen. Immer und immer wieder, nach gleicher Art und Methode, bis er nahezu irrsinnig war. Erst dann schimpfte man ihn aus, hieß ihn faul und einen Lump und zückte auch die Peitsche. „Nichts gearbeitet hat er, dabei hab ich von ihm erwartet, aus dem Kreis ein Viereck zu legen, aber er bringt ja nichts zu stande, der Unhold, unnütz und eine Last, ja, das ist er!“ Der Plastikschemel wurde weggetreten und Vitagen sank röchelnd in die Schlinge. Der Atem wurde unmöglich, der Schweiß der letzten Anstrengung verdampfte und alsbald hing er leblos da, sein Geist verließ den vergangenen Körper, und schwand durch die Öffnung im Boden, die just wieder aufging, schwebte nach unten, wurde zärtlich von einem verwegen schönen Baume aufgenommen und der Birnkreis fing Feuer.

Der dunkle Wanderer, Vitagen 1

Es war an einem Donnerstag im September des Jahres 2007, als er den dunklen Wanderer zum ersten Male traf. Es war kein Zufall, zumindest versuchte er sich das einzureden, während er über die Brücke ging, unter der sich die Fre hindurchschlängelte. Dieser Überquerung folgte ein Pfad, zur linken und rechten von Birnbäumen umsäumt. Er folgte ihm, in tiefen Gedanken gefangen. Wer war dieser Wanderer? Vitagen durchforschte sein Inneres, oder wollte ihm seine unmittelbare Umgebung einen Rat erteilen?

Flugs hielt er inne und im theatralischen Sturze warf das Grauen seine Klauen in ihn. Wie lange war er dem Pfad gefolgt? Es konnte sich nur um Minuten handeln, doch als er seinen Blick um sich warf, so reflektierte das Licht nichts als eine karge, öde Felsenlandschaft. Hier und dort lagen trostlos Trümmerberge und nur in der Ferne konnte er auf einem der zahlreichen Schutthügel ein paar Bitterblumen erspähen. Auch die Sonne schien verschwunden, das Licht war widernatürlich kalt. Vitagen kehrte um, lief und entkam doch nicht. Verzweifelt warf er sich zu Boden und bemühte seinen Verstand.

Dass er wahnsinnig war, war im hinlänglich bekannt, er kam ja gerade erst von einer Sitzung. Doch dergleichen wie eben war ihm noch nie geschehen. Konnte es mit seiner Begegnung zu tun haben? Er versuchte sich diese wieder in Erinnerung zu rufen und wirklich – seine Vision nahm Gestalt an. Er sah sich aus der Stube kommen, er bog ab, innerlich durch das eben Gehörte wieder aufs Neue zerwühlt, und da sah er diese Gestalt auf dem Marktplatz. Um diese Zeit war dort vieles zu Gange, es war die beste Mittagszeit, doch umso deutlicher schnitt sich der Wanderer von der Menge ab. Er stand an einen Stand gelehnt, eine Birne in der Faust und biss herzhaft hinein, dass ihm der Saft nur so übers Gesicht ran. „Du bist es!“, entfuhr es Vitagen und sein Herz schien sich überschlagen zu wollen. „Du, du Alptraum meiner einsamer Nächte, jetzt wagst du dich auch noch ans Tageslicht!“ Und bei diesen Worten taumelte er, stolperte störend durch eine Gruppe Bürger, die gerade an einem Stand über Haushaltswaren verhandelte und fiel dem Wanderer direkt vor die Füße. Dieser lachte keck, bewarf Vitagen mit seiner Birne und drehte ihm eine lange Nase. Dann griff er in seine Hosentasche, brachte einen Zettel hervor und sprach dazu: „Mein lieber Kerl Vitagen, ich erscheine Dir heute um Dir diese Botschaft zu überbringen. Ich zitiere: Mein über alles geschätzter dunkler Wanderer, bitte überbringen Sie diese Botschaft flugs Ihrem lieben Kerl mit dem idiotischen Namen Vitagen, Sie treffen ihn auf dem Marktplatze um die beste Mittagszeit, bla bla bla. Herr Vitagen, nehmen Sie es nicht persönlich, wenn Sie dies jetzt hören, doch richtet sich diese Mitteilung nur persönlich an Sie und auch an niemanden sonst. Es wird Ihnen empfohlen, eine Birne zu verspeisen und an ihren Kernen jämmerlich zu ersticken. Gezeichnet, die destruktive Kraft der Königin der absurden Geburt, und so weiter.“

Der dunkle Wanderer lachte, senkte dabei den Zettel zu Boden und warf dann sein Hemd vom Körper, zog eine Rasierklinge aus seiner Hose und begann sich den Oberkörper garstig aufzuschneiden, dass das Blut nur so hervorsprang. Schließlich schnitt er sich noch den kleinen Finger der linken Hand ab und warf ihn gegen Vitagen, der jedoch in Deckung ging. Darüber wütend packte der dunkle Wanderer nun Birne um Birne vom Ladentisch des hinter ihm gelegenen Standes und bewarf den armen Vitagen damit. Dieser griff sich getroffen an die Kehle, richtete sich würgend auf und taumelte im Todeskampf von dem Platze. Nach einiger Zeit erholte er sich und ging in Ruhe über die zu Beginn genannte Brücke.

- Und jetzt saß er in dieser felsigen Einöde fest. Es war doch wahrlich ein Tag um sich hässliche Dinge anzutun! Er griff sich in seine Manteltasche und erfühlte eine Birne. „Natürlich“, dachte er sich und biss hinein, wenigstens ebenso herzhaft wie der Wanderer auf dem Marktplatz. Er versuchte sich an jedem Kern zu verschlucken, doch wollte es ihm nicht glücken. In wilder Tollheit rief er aus: „Zum Teufel mit mir, nicht einmal an meinem Tode kann ich schuldig sein, und bin ich doch sonst für alles der Verantwortliche“ und rannte blindlings in den nächsten Schutthaufen, in der Hoffnung, es wolle sich ein Trümmer in ihn stoßen. Doch blieb ihm auch dieser Erfolg versagt. Erschöpft sank er ein weiteres Mal nieder, fiel auf die Knie und gedachte seines Wahnes. „Es mag jeder Weg der falsche sein, einen müssen wir doch wählen! Ich war mein ganzes Leben nur der Empfänger des Befehls, warum kann ich nun nicht diesem letzten Kommando meine Ehre erweisen? Ich erledigte es mit Stolz, und doch wird mir wohl eher wieder der Wanderer erscheinen und mich spotten, als dass es mir gelänge.“ Auf diese Worte hin fing er an bitterlich zu weinen und krümmte sich gar mitleiderregend. Doch nicht einmal der dunkle Wanderer wollte ihm wieder erscheinen, die Umgebung blieb öd und leer und somit leerte sich auch das Innere des Vitagen. Er gab die noch nicht einmal halb verdaute Birn’ wieder von sich und noch so vieles mehr. Doch beim Ausspeien der Kerne gelang es einem durch eine unbedachte Atembewegung in die Luftröhre zu schweben und Vitagen fiel zu Boden, die Hände an der Kehle, der Körper sich nach Luft sehnend. Doch das Schicksal kannte kein Erbarmen, und so starb Vitagen noch an Ort und Stelle in dieser Hölle und erwachte erst am Morgen des nächsten Tages wieder niedergeschlagen in seinem Bette, fernab der tristen Felsenlandschaft, die ihm jetzt wie eine gottgesandte Rettung erschien. „Ach“, so sprach er, „ach, was soll’s! Das Ableben ist nicht zu unterschätzen, so will ich morgen meine Frau Mama besuchen um die Technik exakt und fein an ihr zu üben.“

Und mit dieser guten Absicht verkroch er sich in einen tiefen Traum.