Sonntag, 17. August 2008

Mors Voluntaria

Ich beiße doch nicht! Alle Menschen beißen. Nicht mit ihren Zähnen. Nein. Menschen beißen anders. Anders und immerzu. Immerzu.

Ich bin in der Kiste. Gefangen? Nein, gefangen -- gefangen möcht' ich nicht sagen. Gefangen ist nicht richtig. Gefangene, die werden von einem hohen Gitterfenster überwacht. Von einem hohen Gitterfenster. So hoch, dass ein Luftstrom durchwehen kann! Ein Luftstrom des Ausbruchs. Nein. Ich bin in der Kiste. Und die Kiste hat kein Gitterfenster.

Leere. Leer. Die Kiste ist nicht leer. Der massive Behälter ist nicht leer. Ich weiß nicht. Ich weiß nicht aus welchem Stoff die Kiste ist. Welches Material. Lang und dünn. Da! Etwas langes -- und zugleich dünn. Etwas dünnes -- und zugleich lang. Dank der Dunkelheit kann ich das Ding nicht sehen. Dank der Dunkelheit tun die Augen nicht. Dank der Dunkelheit kann ich nur herumtasten. Weh. Etwas hat mich gebissen. In den Finger gebissen. Etwas hat mich – das Ding hat mich in den Finger gebissen! Es ist doch ganz klein. Ganz behutsam kann ich's packen. Ich reibe es zwischen den Fingern. Zärtlich. Es ist doch so zart. Ob das Ding das mag? Ob das Ding mich mag? Ich möchte ihm einen Namen geben. Ich möchte ihm einen Namen geben und nenne es -- die Kiste wird umgeworfen.

Laut, es ist so laut, plötzlich laut, plötzlich so laut! Hab's verloren. Lieg' auf der Seite. Das Ding -- wie will ich's nennen -- weh! Oh nein, es ist weg, wo ist's? Laut! Etwas schreit. Etwas brüllt. Etwas kreischt. Laut! Halte mir die Ohren zu, halte mir beide Ohren zu, ganz fest zu -- aber es mag nicht weg. Herz hüpft böse, schlimm. Ich taste um mich, es ist nicht hier. Das Ding ist nicht hier! Der Lärm ist nicht hier!! Beides ist nicht hier!!! Nicht in der Kiste. Aber wo dann? Ich drücke meine Augen fest, ganz fest gegen die Wand der Kiste. Es tut weh. Es tut nur weh, aber ich seh' nichts. Es wird unangenehm. Unangenehm grell. Salz tropft. Verlässt mich. Alles verlässt mich. Nicht alles. Überall ist jetzt Licht. Überall, nicht in der Kiste. Aber durch ganz kleine, klitzikleine, klitziklitzikleine, so kleine, so klitziklitziklitzikleine Risse - so klein dass man sie gar nicht so richtig sehen kann - kommt Licht. Da ist das Ding! Ich nehme es. Weiß nicht. Weiß nicht, welches Material. Weiß nicht, wie es heißt. Aber die Augen tun.

Lege das Ding zu den anderen Dingen. Ordne die Dinger. Ich will denen Namen geben. Da wird die Kiste sehr geschubst und alles fliegt, alles fliegt durcheinander, alles purzelt durcheinander, ich falle, überschlage mich. Liege ungeschickt. Etwas zerbricht. Etwas tut weh. Licht und Lärm. Mein Kopf verkriecht sich unter meinen Armen. Klein, ich bin so klein – Lärm und Licht sind groß und ich bin so klein. Unangenehme Sinneswahrnehmungen.

Es wird, es wird ruhiger. Die Stimmen schlagen sich, bekämpfen sich, bedrängen mich, doch es wird, es wird ruhiger. Wachsam dehne ich meinen Kopf, strecke achtsam meine Augen hinaus, hinaus aus dem Versteck, hinaus in die Fremde. Licht und Lärm sind nicht weg. Aber es geht. Es wird. Es muss.

Es ist ein Gefäß zur Aufbewahrung und zum Transport von Flüssigkeiten oder auch Gasen mit charakteristischer bauchiger, zylindrischer, quaderförmiger oder ähnlicher Form, mit Hals, aus verschiedenem Material wie Glas, Plastik, Metall, Keramik. Es ist ein Schneidewerkzeug mit Griff und Klinge. Es ist ein handlicher Flüssiggasbehälter zum Feuer machen. Es ist ein längliches, dünnes Werkzeug mit Spitze.

Wie? Wie entkomme ich? Wie entkomme ich der Schrille? Wie entkomme ich der Grelle? Und wie entkomme ich? Und wie entkomme ich beidem? Und wie entkomme ich allem? Ich weiß, ich weiß alles, ich weiß alles ist da, alles ist da in der Kiste! Ich weiß jetzt, wie ich dem Biss entkomme! Den Zähnen! Ein Mal – ein Mal für alle – ein Biss für alle Bisse!

Oh nein, ich bekomme meinen Kopf nicht mehr von meinem Körper! -- Oh nein, ich bekomme meinen Kopf nicht mehr von meinem Körper!! -- Oh nein, ich bekomme meinen Kopf nicht mehr von meinem Körper!!! -- Oh nein, ich bekomme meinen Kopf nicht mehr von meinem Körper!!!! -- Oh nein, ich bekomme meinen Kopf nicht mehr von meinem Körper!!!!! -- Oh nein, ich bekomme meinen Kopf nicht mehr von meinem Körper!!!!!! -- Oh nein, ich bekomme meinen Kopf nicht mehr von meinem Körper!!!!!!! -- Oh nein, ich bekomme meinen Kopf nicht mehr von meinem Körper!!!!!!!! -- Oh nein, ich bekomme meinen Kopf nicht mehr von meinem Körper!!!!!!!!!

Ertaste, ergreife, öffne, drinke, schmecke, drinke, wie Medizin. Riecht wie Medizin. Riecht wie – riecht wie – riecht wie – wie. Riechen ist weg. Nase tut nicht. Olfaktorische Wahrnehmung: Beendet.

Ich sag' A. Ich sag' Aaaahh und schieb' meine Zunge 'raus. Ich sag' Aaaaahhhh und schieb' meine Zunge ganz weit 'raus, ganz hinaus, hinaus in die Fremde. Schnipp! -- Schnapp!! -- Schmerz!!! -- aber nein, aber nicht genug, nicht befriedigend, nicht ausreichend, mangelhaft und ungenügend, Feuer an, Feuer frei! Leid an!! Schrill!!! Grell!!!! Schriller und greller!!!!! Viel und immer mehr -- weiter, sehr. Verbrenne und verlösche, schnell. Mund tut nicht. Gustatorische Wahrnehmung: Beendet.

Licht und Lärm, Lärm und Licht in meinen Körper: Muss weg, alles muss weg, alles muss 'raus! Am Anfang war der Lärm, dann kam das Licht. Am Anfang war die Nadel und eine Hand, eine Nadel in einer Hand, eine Hand die sich zitternd dem Ohr nähert. Lang und dünn. Da! Etwas langes -- und zugleich dünn. Etwas dünnes -- und zugleich lang. Aber lang. Aber lang. Stück für Stück und Ruck für Ruck. Es ist doch ganz klein. Es verschwindet doch im Ohr, es geht doch fort, geht hinein! Ruck für Stück - es verschwindet doch in den Ohren -- ganz leicht! -- plopp & plopp. Ohren tun nicht. Auditive Wahrnehmung: Beendet.

Am Ende, kurz vor dem Ende, kurz vor dem Ende des Tunnels, da war das Licht und da sprach Gott: Dunkelheit soll entstehen! Und die Nadel durchbrach das Auge, das spitze Ding bohrte sich in das andere Ding, ein letzter Biss, ein letztes Mal, das letzte Mahl, es war grell.

Visuelle Wahrnehmung: Beendet. Augen tun nicht. Doch es blieb grell, schrill und grell und die gewaltigen Stimmen fanden ihren Weg fortwährend durch die geschundene Hülle. Die Kiste ward hin und her gestoßen -- ins Unendliche gar unzähliges Mahl. Wer will es essen? Wer will sich die Kost zu Eigen machen? Wer will sich die Pein einverleiben? Ich meine, in Wirklichkeit. Und wer kann es. Wer, wer kann es. Wer kann es überhaupt.

Nur eines, jetzt nur eines, jetzt nur noch eines, jetzt nur noch dieses eine und es ist dunkel, ganz dunkel, unsterblich dunkel in der Kiste -- wie breche ich, wie breche ich mir das Rückenmark?