Sonntag, 9. März 2008

Der dunkle Wanderer, Vitagen 3

Vitagen erwachte in einem Körper um genau 2 Uhr 04 und 11,07 Sekunden. Seinem Blick eröffnete sich sein Zimmer, er stand flugs auf, kleidete sich an, verzichtete wie gewohnt einer unbestimmten Neigung folgend auf eine frühzeitliche Nahrung und verließ das Haus. War es der Abend oder der Morgen? Es konnte ihm gleichgültig sein, war es doch finster, ob auf diese oder andere Weise. Er rannte ein paar Schritte und aus den Schritten wurden Kilometer. Er hetzte um die Ecke und stieß sich den Schädel gar bös'. „Na nu'!“, dachte Vitagen benommen bei sich. „Jetzt gehe ich diesen Weg schon jahrelang, und noch nie war an dieser Stell’ dies’ Hindernis!“ Nachdem die hell strahlenden Sterne und der bleich-kühne Mond vorüber gezogen, beschaute er sich das Hindernis näher, es war ein Schild, auf welchem die folgende Mitteilung geschrieben stand:

„D.D.W. empfiehlt:
Treten sie unbedingt dem Verein „Mut zur natürlichen Hässlichkeit“ bei! Gegen künstliche Normbildung, frei sei die Natur!“

Vitagen zeigte sich glücklich, besah sich die angegebene Kontaktadresse näher und plante einen, wie er hoffte, kurzen Umweg ein. Er lief Häuserecke um Häuserecke ab, doch schien sich die angegebene Straße nicht an ihrem ursprünglichen Flecke befinden zu wollen. Vor Erschöpfung keuchend hielt er inne, stütze sich gekrümmt an einen Laternenpfahl und presste die Hand in den Bauch. Durch das kühle Licht der Laterne bekam die sonst so unkenntlich finstre Umgebung eine unwirkliche Aura, fast war ihm, als begann alles um ihn herum zu leben und zu singen. Hier und da schnappte er einige Fetzen auf, es waren Verse wie:
„Scharlachrot ist der Birnbaum, der Birnbaum ist grau“, oder „So rosa die Nacht, so grün das Wesen, so schwarz das Licht“ oder auch einfach „Ich wünschte mir, das Leben weinte blaue Tränen“. Wie einen Traum, so versuchte er das Erlebte mit dem Verstand abzuschütteln, und es gelang sogar. Vitagen rappelte sich alsbald auf, um weiterzusuchen. Doch bereits nach wenigen Schritten stolperte er, fiel der Länge nach unsanft. Lange harrte er auf dem rauen Asphalt. „Was treibt die Menschen nur dazu“, so kamen ihm schmerzhaft die Gedanken, „das natürlich feine Wesen der Welt mit derartig seelenlosem zu belasten. Der hoheitliche Mensch, er überbaut ja alles Leben und fragt sich am Ende, wo und wie es nur verschwinden konnte!“ Das Blut stahl sich ihm schwer aus den Wunden, doch beim Aufprall der Tropfen auf dem harten Grunde kamen allmählich die subtilen Gesänge zurück und von neuer Energie gepackt sprang Vitagen auf, säuberte sich, indem er ein Taschentuch zu Hilfe nahm und sprang voll kindlicher Freude einem neuen Ziel entgegen, dabei stetig von dem einen auf das andere Bein wechselnd.

Unterwegs, einige leblose Straßen weiter, traf er auf einen Gärtner, der kopfschüttelnd an einer Verkehrsinsel stand und den spärlichen, offensichtlich bald sterbenden Blumenwuchs mit unverständlichem Blicke abmaß. „Was soll ich nur tun“, so redete er sich zu, „jede Methode versagt, doch will ich ja nur ein wenig vom Leben und von der Schönheit der Natur hier in den Verkehr auf dieser Straße bringen!“
„So zerstückle er die Straße und pflanze dann seine Blumen, und er wird sehen, wie das Werk der Natur wieder Leben hierher bringt!“, brach Vitagen unaufgefordert in den Monolog, er war einfach hinzu getreten um sich, neugierig geworden, das Problem aus der Nähe zu beschauen. „Sei kein Narr“, so sprach der Gärtner, „wenn ich die Straße entferne, so entferne ich auch die Bedeutung dieses Ortes. Durch die Straße hat der Mensch Verbindung, ohne erreicht er ihn nicht, er erreicht nichts!“
„...erreicht nichts.“, echote Vitagen bedacht. „Da magst du Recht haben, oh Freund der künstlichen Bepflanzung, der Mensch erreicht die Natur doch nur noch durch künstliche Methoden voller selbst erschaffener Technik, ich will sagen, selbst verpfuschter Technik! Er hat Genuss und Ruh’ verlernt und kann sich nicht mehr in aller Sinnlichkeit einfach aufs Gras betten um den nahen Wald zu spüren und ihn in sich aufzunehmen, nein, die Kleidung könnte ja Flecken davon tragen, so benötigt er also zumindest eine sterile Bank. Und wohl dazu gleich auch das Telefon, bei aller Notlage. Und so weiter! Doch verschafft er sich ja selbst in all der Hektik und mit jeder weit’ren leblosen Technik immer mehr der Notlagen, da er sich mit ihnen ja immer mehr der Natur, dem Ziel und Sinn entzieht! Wie kann das nur übersehen werden! Wie! Bei all der Widernatur, über die man so klagt! Warum kann man die Natur nicht nehmen und lassen, wie sie ist? Ich stehe hier und frage mich das, weil ich einen Gärtner sehe, der sich wundert, warum seine Samen nicht gedeihen wollen! Herr Gärtner, so schauen sie doch nur genau hin! Wer will denn allein der Schönheit wegen wachsen, um bei beginnender Reife schon danklos abgetötet und abgelöst zu werden?“
„Nun, vergleiche er mir nur nicht die Pflanze mit dem Menschen!“, tadelte der Gärtner unfein. „Er erweist sich ja am Ende noch als dumpfer Träumer! Der Mensch ist zur Reife da, die Pflanze aber ist nur ein nied’rer Diener, der ihm zu gehorchen hat, oder er wird zertrampelt, so will es das Gesetz!“ Das letzte ward geschrien und der Gärtner hüpfte und sprang auf den leblosen Blümchen herum wie ein Toller. „Mögest du eines Tages so leblos werden wie das Wesen deiner Technik“, so dachte Vitagen bei sich und zog ohne ein weit’res Wort traurig von dannen.

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